Bereichernde Unsicherheit

Warum Zweifel, Schuldgefühle und Müdigkeit etwas Besonderes bewirken können.

Ich kann meine Finger kaum noch spüren, als sie sich vor Kälte um den Griff des Kinderwagens klammern. Ich ärgere mich, dass meine dicken Fäustlinge in der Garderobe unserer herrlich warmen Wohnung, in voller Gemütlichkeit herumliegen, während meine Finger hier bald Erfrierungen erleiden müssen. Genau heute schläfst du so gut, während ich schon seit zwei Stunden durch die stürmischen Straßen marschiere, dich behutsam vor mir her schiebend. Heute ist wieder so ein Tag, an dem ich dem Sonnenschein hinterherjage, wie eine Tatort-Kommissarin dem Verbrecher. Nur dass es eben kein Bösewicht ist, dem ich dicht auf den Fersen bin, sondern Sonnenstrahlen die meine Wangen röten und einen so angenehmen, warmen Film auf meiner Haut hinterlassen.  Ich verfolge die Sonne durch die Häuserschluchten, wechsle Straßenseiten und nehme gekonnt Abkürzungen. Das muss lustig aussehen, für jemanden der dieses Schauspiel beobachtet. 
Ich bin müde und der Coffee to Go kommt gerade zur richtigen Zeit. Ich betrachte dein schlafendes Gesicht, so friedlich. So ruhig, als könntest du kein Wässerchen trüben. „Wenn du schläfst, liebe ich dich immer noch ein Stückchen mehr“, denke ich und fühle mich fast ein bisschen ertappt. Darf ich  sowas überhaupt denken? Aber wenn du schläfst, kann ich dich einfach betrachten, bewundern, ohne Ansprüchen genügen zu müssen, ohne Bedürfnisse befriedigen zu wollen, ohne selbstauferlegte Bedingungen gerecht werden zu müssen. In diesen friedlichen, ruhigen Momenten bin ich stolz. Ich bin stolz auf dich, weil du so ein ausgesprochen wunderbares Baby bist und schaffe es, auch mir etwas von dem Stolz zu widmen. Für mich, weil ich mich so bemühe, jeden Tag. Und weil ich es gut mache. Nicht immer und ausschließlich, ja auch nicht 100%ig, aber ich sehe hier weit und breit niemanden mit einer Skala, also erlaube ich mir einfach ein wohlwollendes, gutes Gefühl, dass ausnahmsweise nur mir gebührt. Das fühlt sich richtig gut an. Ein Gefühl, dass ich in letzter Zeit vermisst habe. Es war wohl verreist?! Ab jetzt könnte es jedenfalls wieder regelmäßig vorbeischauen, finde ich. Hat sich in letzter Zeit doch so viel um dich, mein kleines Baby, gedreht.

Bevor du auf der Welt warst und unser Leben danach eine 180 Grad Wende vollzogen hat, hätte ich mich wohl als selbstbewusst, eigenständig, mutig, stark und lebensfroh beschrieben. Nun, nachdem mein Kompetenzradius ums Mamasein ergänzt wurde, würde ich erstaunlicherweise dasselbe sagen, aber dann doch andere Worte dafür wählen: unsicher, einsam, besorgt, überfordert und müde. Was nicht bedeutet dass ich plötzlich eine schwächere Version meiner Selbst geworden bin, eher eine Erweiterte. Emotionaler, umsichtiger, verantwortungsbewusster und verletzlicher, was ganz klar ist, denn je mehr man hat, das unersetzlich für einen ist, umso verletzlicher wird man. Ist das schlimm? Ich finde es menschlich.

Nie zuvor hatte ich so viele Zweifel und bin,  trotz höchster Anstrengung, nie fertig. Andererseits finde ich es erstaunlich wie viel ich bereits nach dieser kurzen Zeit dazu gelernt habe. Angefangen bei der neuen Art der Verständigung und Kommunikation, mit dir. Mein Wissen über Babynahrung, Babyhygiene, Entwicklungspsychologie und Kleidergrößen für Babys hat sich bestimmt um das hundertfache gesteigert. Ich habe neue Freunde gefunden und alte Freundschaften geprüft.
Ich habe einen neuen Blickwinkel auf das Leben gewonnen. Ich habe gelernt wie wichtig es ist, fürsorglich mit sich selbst umzugehen. Nicht nur, um eine gute Mama sein zu können, sondern auch eines guten Vorbild willens. Besonders aber, weil ich nun weiß, dass ich mein Leben mitgestalten kann und meine eigenen Spielregeln gelten. Ich erschaffe die Säulen meiner Welt, für meine Familie, für mich, für die Zukunft.

Noch nie habe ich so gehadert, noch nie habe ich mich so geschätzt.

 

 

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Mama werden – Frau bleiben

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Mein Wiedereinstieg